Die Ansprüche an musikalische Ausgaben allgemein änderten sich auch wegen des
starken Wandels in der Notation um 1800. Ein neues Interesse an älterer Musik machte in ausschließlich praktischen Ausgaben editorische Eingriffe notwendig. Um den veralteten Notentext weiterhin lesbar und praktikabel zugänglich zu machen, wurden verschiedne Formen der Bezeichnung und Kommentierung eingeführt. Ähnlich den ersten wissenschaftlichen Gesamt- und Denkmalausgaben aus der Mitte des 19. Jahrhunderts entstanden neue Publikationsformen, wie die Gesamtausgabe der Klavierwerke klassischer Meister in Einzel- oder Reihenpublikationen.
Mit der Einführung des Herausgebers durch die wissenschaftliche Edition sollten bei
diesen praktischen Publikationen die Namen prominenter Musiker und Musikpädagogen für die Qualität der aufführungspraktischen und kommentierenden Zusätze garantieren. Gründe hierfür sind mehr im bürgerlichen Bildungsideal zu suchen und weniger in wissenschaftlichem Interesse. So fanden sich auch gekennzeichnete Herausgeberzusätze und in Notentext integrierte analytische und ästhetische Erläuterung als erprobte wissenschaftliche Editionstechniken in instruktiven, praktischen Ausgaben.
Der vorläufige Höhepunkt der fortschreitenden Bezeichnung und Gestaltung des Noten-
textes war in der von Heinrich Germer ab 1890 bei Litolff erscheinenden Akademischen Neu-Ausgabe klassischer Klavierwerke erreicht. Die Kombination von aufführungspraktischer und analytischer Bezeichnung, Dokumentation varianter Lesarten in Fußnoten und in einer umfangreichen Kommentierung, die vortragstechnische, ästhetische und textkritische Fragen thematisiert, mündetet in der Überfrachtung des Notentextes, die die Praktikabilität der Edition erheblich einschränkt.
Als Gegenbewegung zu immer stärker und immer unterschiedlicher bezeichneten
Ausgaben wurde 1895 durch die Königliche Akademie der Künste zu Berlin die Reihe
Urtext classischer Musikwerke gegründet. In ihr sollten ausschließlich unbezeichnete Ausgaben erscheinen, um der befürchteten Entfremdung der eigentlichen Musikwerke zu begegnen. Ein Anliegen, das erst mit den praktischen Urtext-Ausgaben des dafür gegründeten Henle-Verlags in den 1940er Jahren erfolgreich umgesetzt werden konnte. Erst dann konnten Instruktionen und Kommentare anderen, inzwischen gewachsenen Institutionen und Medien überlassen und endgültig aus den Musikalien ausgeschlossen werden.
Mit der von der Berliner Akademie der Künste initiierten Reihe begann 1895 eine neue
Epoche der Editionsgeschichte. Dem bis dahin ständig gestiegenen Vermittlungsanspruch der instruktiven und Interpretationsausgaben standen nun möglichst unbeschriebene Urtext-Ausgaben gegenüber.
Durch den Niedergang der Interpretationsausgabe im 20. Jahrhundert und den Aufstieg
der so genannten Urtextausgabe wurde das Problem der musikalischen Darstellung des
Notentextes zwar ausgelagert, aber nicht gelöst. Ein Grund für den Erfolg des Urtextes kann darin gesehen werden, dass Interpretationen veralten und Urtexte, zumindest hinsichtlich irgendwelcher Zusätze, nicht. Das Aufkommen von Tonträgern als neues Medium darf dabei nicht außer Acht gelassen werden. In den Interpretationsausgaben waren bisher zwei völlig verschiedene Informationsarten gebündelt, der eigentliche Notentext und dessen Interpretationsanweisungen. Nun konnten verschiedene Interpretationen den jeweiligen Aufnahmen entnommen und mussten nicht mehr umständlich direkt in den Text hineingeschrieben werden. Letztlich gehört auch die Urtextausgabe zu einer Interpretationskultur, die einen vermittelnden Notentext selbst nicht mehr brauchte.
Trotz der noblen Idee, den Notentext nicht durch Herausgeberzusätze zu verunreinigen, schien auch die Urtextausgabe letztendlich nicht geeignet, ein Werk im Sinne der Intention des Komponisten zu publizieren, da sie wie selbstverständlich einen intendierten Klang suggerieren, der so eventuell nie gemeint war.
Ausgehend von der Aufbruchs- und Wiederaufbaustimmung nach dem zweiten Welt-
krieg, begann im deutschsprachigen Raum ein neuer Abschnitt in der Geschichte der
wissenschaftlichen Musikedition. Das Bewahren der Vergangenheit hatte nach den zerstörerischen Kriegsjahren einen neuen Stellenwert eingenommen.
Zahlreiche Editionsprojekte wurden gegründet, deren Anliegen die Herausgabe
sämtlicher Werke eines Komponisten war. Das waren zum Teil Neu-Ausgaben der
bereits existierenden Gesamtausgaben mit den Verfahrensweisen einer inzwischen in
ihren Grundsätzen veränderten Editionsphilologie. Es hatte sich herausgestellt, dass die alten Ausgaben nicht mehr dem Anspruch, der an sie gerichtet war, gerecht werden
konnten.
Da die musikalischen Gesamtausgaben als geeignetes Mittel für eine auch international wirksame Repräsentanz nationaler Kultur anerkannten waren, wurden die sehr kostenintensiven Editionsunternehmen durch öffentliche Gelder von Bund und Ländern sowie kulturtragende Institutionen wie die deutschen Akademien der Wissenschaften entsprechend gefördert. Außerdem war das große Engagement der Musikverlage dienlich, die wirtschaftlich-kommerzielle Interessen mit der Erfüllung der ethischen Verpflichtung zur Bewahrung musikalischer Qualitätsstandards verbanden und dies bis heute noch tun.
Die Idee des individuellen Kunstwerks ist durch die kompositorischen Entwicklungen
im 20. Jahrhundert ins Wanken geraten. Da viele Komponisten sehr gegensätzliche,
radikal andersartige Musikkonzepte entwickelt hatten, wurde sogar vom Verfall des
Werkbegriffs gesprochen. Entscheidend dabei ist die Erkenntnis, dass der Kunstbegriff des 19. Jahrhunderts historisch bedingt ist, also nur im Kontext seiner Zeit Gültigkeit hat.
Diese Erkenntnis schlägt sich auch in den Editionstechniken selbst nieder. Es werden
nun alle Quellen unabhängig von ihrer Rolle in der Werkgenese oder -verbreitung als
zur Sache gehörig verstanden und behandelt. Die ästhetisch-normative Grundhaltung
wurde von einer übergreifend historisierenden Differenzierung abgelöst, was bis heute Bestand hat.
Literatur:
- Krones, Hartmut: Wie ediert man „verloren gegangene
Selbstverständlichkeiten“? Urtext, Urklang oder weder/ noch? aus
“Vom Erkennen des Erkannten” Musikalische Analyse und Editionsphilologie, hrsg. von Friederike Wißmann, Thomas Ahrend, Heinz von Loesch, Wiesbaden u. a. 2007, S.183-198.
- Oppermann, Annette: Musikalische Klassiker-Ausgaben des 19. Jahrhunderts,
Göttingen 2001. - Scheideler, Ullrich: Zwischen Philologie und musikalischer Interpretation.
Zu einigen Ausgaben aus dem 19.Jahrhundert von Johann Sebastian Bachs
Wohltemperiertem Klavier, I.Teil, aus “Vom Erkennen des Erkannten” Musikalische Analyse und Editionsphilologie, hrsg. von Friederike Wißmann, Thomas Ahrend, Heinz von Loesch, Wiesbaden u. a. 2007, S.101-118.
- Schmidt, Christian Martin: Zwischen Quellentreue und Werkrezeption, aus
Musikedition. Mittler zwischen Wissenschaft und musikalischer Praxis, hrsg. von Helga Lühning, Beihefte zu editio Band 17, Tübingen 2002, S.3-18.
- Dadelsen, Georg von: Vorwort des Herausgebers, aus Editionsrichtlinien. Musikalische Denkmäler und Gesamtausgaben, hrsg. von Georg von Dadelsen, Kassel u. a. 1967
, S. 7-16.
Man spricht im Zusammenhang mit notierter Musik auch vom Notentext und meint damit eben die geschriebenen oder gedruckten Noten.
Der Ur-Text ist dann sozusagen die ursprüngliche Version eines (Noten-)Textes der im Laufe der Jahrzehnte oder Jahrhunderte verschiedene Abschriften, Überarbeitungen oder Anreicherung mit Interprätationszusätzen erlebt hat. Damit soll der Urtext das Gegenstück der Interprätationausgabe sein – frei von allem, was nicht vom Konponisten stammt. Ausführlich kann man das in dem Buch von Annette Oppermann nachlesen. (s.o.)
So weit die noble Idee. Tatsache ist, dass „Urtext“ kein geschützer Begriff ist und praktisch jeder Verleger seine Ausgaben quasi als die „echtere“ Ausgabe mit einem Urtext-Sigel adeln kann. Was auch praktisch passiert, denn solche Ausgaben verkaufen sich besser. Als Musiker hat man wenig Möglichkeit die Qualität oder Authentizität des Notentextes zu prüfen, wenn der Herausgeber keine Angaben darüber gemacht hat, welche Quellen er der Edition zugrunde gelegt hat. Wenn jegliche Quellenangaben fehlen, bin ich immer skeptisch. Ich schweife ab…
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