Für die Geschichte der wissenschaftlichen Edition von musikalischen Werken ist das Begreifen von schriftlicher Fixierung zum Beispiel der Partitur als Produkt der geistigen Schöpfung eines Kunstwerkes eine wichtige Grundlage, die erst 1837 mit der Gleichstellung von musikalischen mit literarischen Werken in Preußen gegeben war. Erst dadurch wurden Partituren in den Status von Dokumenten geistiger Leistung erhoben. Bis dahin war die Niederschrift von Musik eine handwerkliche Leistung, die dem materiellen Wert der Druckplatten und der damit produzierten Papierausgaben gleich war, anders als die Schöpfung von Kunstwerken, wie Gemälden, Statuen oder Büchern. Diese Neuerung hatte für Komponisten eine durchaus existenzielle Bedeutung: Komponieren war die Erschaffung von Werken, die an sich nicht greifbar sind und nur über das Aufschreiben mittelbar durch die Aufführungen praktischer Musiker erlebbar gemacht werden konnten. Ein finanzielles Auskommen war für Komponisten nur über andere Tätigkeiten, wie Musikausübung als Virtuose oder Dirigent, als Musikschriftsteller oder als Lehrer zu erlangen. Um das Komponieren profitabel zu machen brauchte die Partitur den Rang des geistigen Anteils am Kunstwerk. (Klassen 2007, S. 279f.)
Noch in den dreißiger und vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts war ein einigermaßen verbindlicher Notentext nur mit einem erheblichen Energieaufwand zu bekommen. Beispielsweise Chopin hat seine Werke einige Verleger drucken lassen und erhielt genauso viele Varianten seiner Werke, wie er Verleger beauftragt hatte, zurück. Sie enthielten eigenmächtige Zusätze und Änderungen, aber auch schlicht Abweichungen, weil die Vorlage nicht richtig entziffert werden konnte. Dazu kamen noch Varianten die Chopin selbst nach eigenen Aufführungen oder durch Eintragungen in die Exemplare seiner Schüler während des Unterrichts erzeugte. Letztendlich existierte eine Fülle an Textschichten, die zu ernsten Entscheidungsproblemen führten. In Folge dessen wurde Brahms vorsichtiger bei der Wahl der Verlage, was aber zu nächst das Problem seiner Nachbesserungen nach Aufführungen noch nicht beseitigt. (Klassen 2007, S. 281 und Schwindt-Gross 1999, S. 166)
Dieses Beispiel zeigt geradezu exemplarisch welchem Verfallsprozess Musikwerke mit ihrer Veröffentlich ausgesetzt sein konnten. Gegen Eingriffe jeglicher Art gab es vor der Einführung eines Urheberschutzrechts keine Handhabe und später nach dem Ablauf der eingeführten Schutzfrist auch nicht. (Feder 1987, S. 156f.)
Zeitgleich mit dem Historismus kam ein erstes philologisches Interesse am Notentext auf. Der eigene Standort, ließ sich über den Blick zurück in die Geschichte bestimmen. Philologie allgemein entwickelte sich zur Leitwissenschaft des 19. Jahrhunderts, um so aktiv Maßstäbe für die angestrebte nationale Zukunft zu setzten. Im Zuge dessen wurde auch das Interesse an älterer Musik größer. Verschiedene Komponisten erlebten aus ganz unterschiedlichen Gründen eine Renaissance. Denkmäler- und Gesamtausgaben, beginnend mit der Alten Bach-Ausgabe ab 1851 wurden ins Leben gerufen. (Schmidt 2002, S. 8 und Klassen 2007, S. 281f.)
Bei dem Versuch sich mit philologischem Handwerkszeug dem Notentext zu nähern, veränderte sich das Verhältnis zum geschriebenen Notentext selbst. Mit den Grundsätzen der Authentizität und der Werktreue, musste ein gesicherter Textkorpus erst gefunden werden. (Klassen 2007, S. 282)
Die Editoren waren anfangs sehr dem allgemeinen Denken ihrer Zeit verhaftet, in der sich autonome Tonkunst mit normativer Gültigkeit realisiert, dass heisst in sich geschlossene Werke mit emphatischem Charakter war das Ziel schöpferischen Gestaltens. Das Werk ist individuell einzigartig, in genau einer autorisierten Fassung, es existiert in eben dieser einen originalen Gestalt. Dieser Werkbegriff wurde auch bei der Edition der älteren Musik zugrunde gelegt. Die Partitur enthält die Idee des Kunstwerks und eine letztgültige authentische Fassung muss gefunden werden, von deren Existenz man ausging.
Mit Blick auf die angestrebte Werkrezeption übertrug man veraltete Notationsformen, wie Mensural- und Modalnotationen und Tabulaturen, in eine moderne, praktikable Form. Auch wenn das im Widerspruch zur theoretisch festgelegten Quellentreue stand, konnte das als Kompromiss zwischen Philologie und Praxis gebilligt werden. (Schmidt 2002, S. 8)
Mit den verfügbaren Quellen wurde sehr unterschiedlich umgegangen. Quellen, die nicht als unmittelbare Dokumente des einen definitiven Textes gelten konnten, wurden von der Edition ausgeschlossen. Dies waren hauptsächlich Quellen wie Skizzen und Fassungen, weil sie für Dokumente der Unabgeschossenheit der Werkkonzeption gehalten werden konnten. Auch Sekundärversionen wie Klavierauszüge, egal ob sie vom Komponisten selbst angefertigt und sogar gedruckt worden waren, blieben außen vor. Maßgebend für die Editionstechnik war also keine wirklich wissenschaftliche Haltung, sondern eher ein ästhetisches Interesse, dass sich gemäß dem Verständnis der Zeit an der eigenen hoch entwickelten Tonkunst orientierte.
Skizzen und Kompositionsentwürfe gehörten zu den Privatsachen des Komponisten und hatten nicht mit dem Werk zu tun. Sie fanden lediglich in biographischen Kontexten Verwendung. Unterschiedliche Fassungen wurden an der Idealvorstellung des einen abgeschlossenen Originals gemessen und wurden folglich entweder total von der Publikation ausgeschlossen, oder angeglichen und gemischt gedruckt. Damit wurden sie sogar fälschlich als nicht autorisierte Fassung künstlich in den Rang der Authentizität gehoben. Klavierauszüge hatten zwar eine tragende Rolle für die Verbreitung der Werke im 19. Jahrhundert, galten aber als ausschließlich pragmatische Bearbeitungen und wurden daher nicht in die Werkausgaben aufgenommen. (Schmidt 2002, S. 9)
Eine erste Änderung in diesem Editionsverständnis kann eventuell aus Brahms persönlicher Geschichte gelesen werden. In einem Briefwechsel mit seinem Verleger ging es darum, dass von Verlagsseite gewünscht worden war, Daten zur Entstehungsgeschichte seiner Werke mit in ein geplantes Werkverzeichnis aufzunehmen. Als Reaktion auf diese Bitte antwortet Brahms mit der Vernichtung eines Großteils der Handschriften, die sich noch in seinem Besitz befanden und machte es nun quasi unmöglich nachträglich in seine Werkgenese einzublicken. Die Tatsache das der Verlag überhaupt Interesse an der Werkgenese zeigte und auch dass Brahms darauf so überaus heftig reagiert, lassen zumindest die Überlegung zu, dass es eventuell nicht mehr nur um den Abdruck der einen autorisierten Fassung, sondern auch um die Entscheidungen des Komponisten auf dem Weg dorthin – die Werkgenese – gegangen sein könnte. (Breyer 2007, S. 297)
Literatur:
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- Breyer, Knud: „Oh über die Philologen! … Eine Falsche Note ist ihnen wichtiger als die ganze Sinfonie und ein Datum lieber als der ganze Mensch!“. Überlegungen zur Quellenlage bei Johannes Brahms, aus “Vom Erkennen des Erkannten” Musikalische Analyse und Editionsphilologie, hrsg. von Friederike Wißmann, Thomas Ahrend, Heinz von Loesch, Wiesbaden u. a. 2007
, S.295– 304.
- Feder, Georg: Musikphilologie
. Eine Einführung in die musikalische Textkritik, Hermneutik und Editionstechnik, Darmstadt 1987.
- Klassen, Janina: Stationen zur Unsterblichkeit. Werk, Urheberrecht und Gesamtausgabe aus “Vom Erkennen des Erkannten” Musikalische Analyse und Editionsphilologie, hrsg. von Friederike Wißmann, Thomas Ahrend, Heinz von Loesch, Wiesbaden u. a. 2007
, S. 279- 283.
- Schmidt, Christian Martin: Zwischen Quellentreue und Werkrezeption, aus
Musikedition. Mittler zwischen Wissenschaft und musikalischer Praxis, hrsg. von Helga Lühning, Beihefte zu editio Band 17, Tübingen 2002, S.3-18.
- Schwindt-Gross, Nicole: Musikwissenschaftliches Arbeiten. Hilfsmittel. Techniken. Aufgaben.
, Kassel u. a. 1999.
- Breyer, Knud: „Oh über die Philologen! … Eine Falsche Note ist ihnen wichtiger als die ganze Sinfonie und ein Datum lieber als der ganze Mensch!“. Überlegungen zur Quellenlage bei Johannes Brahms, aus “Vom Erkennen des Erkannten” Musikalische Analyse und Editionsphilologie, hrsg. von Friederike Wißmann, Thomas Ahrend, Heinz von Loesch, Wiesbaden u. a. 2007